Das Haus & Helene Kaisen

„Der ausschließliche Zweck des Vereins ist die Schaffung und Unterhaltung eines Nachbarschaftshauses in Bremen als Stätte, die jedem Menschen ohne Rücksicht auf religiöse, politische oder altersmäßige Beschränkung offensteht. Das Haus soll jedem Menschen ermöglichen, durch praktische Erfahrungen und unmittelbares Erleben den inneren Gehalt einer echten demokratischen Gemeinschaft kennenzulernen. Ferner soll das Haus als Muster für weitere evtl. entstehende derartige Häuser und daher auch als Ausbildungsstätte für alle Arten von Kräften der sozialen und pädagogischen Arbeit dienen.“

na‘ – Satzung

Der Plan eines „Nachbarschaftshauses“ geht auf Kontakte zurück, die die Arbeiterwohlfahrt Deutschland kurz nach Kriegsende in den USA zum Sozialwerk der Unitarian Service Committee“ (USC), geknüpft hatte. Das freireligiöse Sozialwerk hatte von sich aus die Idee entwickelt, in Deutschland ein Nachbarschaftshaus in Anlehnung an amerikanische Modelle aufzubauen und damit einen Beitrag zur demokratischen Erneuerung Deutschlands zu leisten.

Moderne Methoden der Sozialarbeit

Als erstes sollte ein „institute“ zur Fortbildung deutscher Mitarbeiter aus der Wohlfahrtsarbeit eingerichtet werden. Dies geschah im Sommer 1949, weitere folgten zwischen 1950 und 1953. Diese beinhalteten Kurse zur Kinderfürsorge, zu Fragen der Jugend- und Wohlfahrtsarbeit, zur Psychiatrie, über `moderne Methoden´ der Sozialarbeit und verbanden dies mit „Grundkursen in Demokratie“ und mit der Einübung neuer Formen von Geselligkeit und Kommunikation. Dass dann Bremen zum Standort des Nachbarschaftshauses gewählt wurde, verdankt die Stadt den freundschaftlichen Kontakten, die Adolf und Ella Ehlers bereits 1947 zu den deutschen Vertretern des USC geknüpft hatten.

Geschichte des Nachbarschaftshauses - die Anfänge
Von den Anfängen des Nachbarschaftshauses

Gröpelingen vom Krieg schwer betroffen

Im Sommer 1950 war die Entscheidung endgültig gefallen. Die eigentlichen Kooperationspartner vom USC Boston waren eigens nach Bremen gekommen, um mit Adolf und Ella Ehlers sowie Lotte Lemke die Idee zu konkretisieren. Hier fiel dann auch die Entscheidung, das Nachbarschaftshaus in gemeinschaftlicher Trägerschaft des Hauptausschusses, des USC, der Stadt Bremen und der AWO zu führen und zu diesem Zweck einen eigenen Verein zu gründen. Es wurde ein Arbeitskreis gegründet und mit vorbereitenden Aufgaben beauftragt. Man entschied, das Haus in einem Bremer Arbeiterviertel zu bauen, wobei man sich sehr schnell auf Gröpelingen einigte, da dieser vom Krieg schwer betroffene Stadtteil ein dichtbevölkertes Arbeitergebiet war, in dem auch viele Kinder lebten. Wie eilig man es hatte, zeigte, dass bereits am 6.12.1950 die Gründungsversammlung für einen „Verein Nachbarschaftshaus Bremen e.V.“ stattfand. An diesem Tag trafen sich Ella Ehlers, Charlotte Niehaus, Clara Jungmittag, Helene Kaisen, Heinrich Busch, Frieda Lehmkuhl, Frida Paul, Wilhelm Waßmann und Anna Prill vom Arbeiterhilfswerk, Lotte Lemke vom Hauptausschuß, Adolf Ehlers als Vertreter der Stadt Bremen. Da eine Gründerorganisation, das USC, nicht anwesend war, wurde die Gründungsversammlung am 8.5.1951 wiederholt. Zur Vorstandsvorsitzenden des Vereins „Nachbarschaftshaus Gröpelingen“ wurde Helene Kaisen gewählt.

Der Umzug

Zunächst wurden Räume in einem ehemaligen Jugendwohnheim am Halmerweg bezogen, in dem Flüchtlingsfamilien und ein AWO Kindergarten untergebracht waren. Die Henry Ford Foundation, die an vielen Stellen den kulturellen Wiederaufbau Deutschlands unterstützte, bewilligte dann 150.000 DM an das USC für den Bau eines Nachbarschaftshauses, so daß jetzt gleich an den Kauf eines Grundstücks und einen Neubau gedacht werden konnte.

Das neue Haus

Die Stadt Bremen stellte dem Verein ein Grundstück für 99 Jahre in Erbpacht zur Verfügung, und für den Neubau wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben. Das Nachbarschaftshaus wurde auf den Fundamenten der ehemaligen, dann ausgebombten Schule am Ohlenhof 10 in Gröpelingen errichtet. Am 11. Dezember 1951 wurde Richtfest gefeiert. Nur ein halbes Jahr später, am 26. Mai 1952, fand die Einweihungsfeier mit Schlüsselübergabe statt. Von der Öffentlichkeit wurde das Haus, schon seiner Einrichtung wegen, bewundernd bestaunt: Es gab mehrere Zimmer für Kinder, ein Lesezimmer, ein Feierabendzimmer, Werkräume und einen großen Vortrags- und Versammlungsraum. Es war etwas entstanden, das Bremen über viele Jahre hinweg, wie auch geplant, zum `Pilgerort` für Menschen auf der Suche nach `neuen Wegen` wurde. 

Neubau des Nachbarschaftshauses Bremen
Neubau des Nachbarschaftshauses Bremen 1951/52

Helene Kaisen

Helene Schweida wurde am 11.05.1889 in Braunschweig geboren. Ihr Vater war Tischler, die Mutter Köchin. 1890 wurde der Vater wegen seiner gewerkschaftlichen und politischen Aktivitäten aus Braunschweig ausgewiesen; die Familie zog nach Bremen. Helene Schweida besuchte die Volksschule und die Handelsschule. Sie absolvierte eine kaufmännische Lehre und arbeitete bis 1912 als Buchhalterin. Die gewerkschaftlichen und politischen Tätigkeiten des Vaters regten sie schon früh zu eigener politischer Betätigung an. Als 18-Jährige wurde sie Mitglied der SPD, zunächst in der Sozialistischen Arbeiterjugend. Fünf Jahre später wurde sie als Beisitzerin in den Vorstand des Sozialdemokratischen Vereins gewählt. Sie übernahm diverse Parteiämter und war eine vielbeschäftigte Rednerin. Vom Oktober 1913 bis Ende März 1914 besuchte sie, delegiert durch die Partei, die Parteischule der SPD in Berlin. Hier lernte sie auch ihren späteren Mann, den von der Hamburger SPD delegierten Wilhelm Kaisen, kennen.

Helene Kaisen (geb. Schweida)

Eine Führerin der antimilitaristischen Frauenbewegung

Während des 1. Weltkrieges arbeitete Helene Schweida zunächst im Zentral-Hilfs-Ausschuss vom Roten Kreuz mit. Seit 1916 wandte sie sich zunehmend von der Politik ihrer Partei ab und wurde eine der Führerinnen der antimilitaristischen Frauenbewegung in Bremen und Mitglied der oppositionellen Jugendbewegung. Noch vor der Parteienspaltung wurde sie zur Vorsitzenden der Jugendkommission des Sozialdemokratischen Vereins gewählt, die dem linken Parteiflügel zugerechnet wurde; 1917 trat sie mit dieser Gruppe der USPD bei (wobei ungesichert ist, ob sie formales Mitglied wurde). Nach ihrer Heirat zog sich Helene Kaisen aus dem politischen Leben zurück, wandte sich aber wiederum sozialen Angelegenheiten zu. Sofern sie nicht unmittelbar Mitbegründerin des Ortsausschusses für AWO war, gehörte sie zumindest zu den tätigen Mitgliedern der Organisation während der Weimarer Zeit.

Wilhelm Kaisen in „Schutzhaft“

Im Mai 1933 wurde Wilhelm Kaisen für zwölf Tage in „Schutzhaft“ genommen. Die Familie, inzwischen mit vier Kindern, übernahm die Siedlerstelle in Bremen Borgfeld, in der sie bis Kriegsende relativ zurückgezogen lebte. Helene Kaisen, so ihre Tochter Ilse Kaisen, half während dieser Jahre oft im privaten Kreis Menschen in Rechts- und sozialen Angelegenheiten. Zu den Leidenserfahrungen der Familie im Krieg gehörte, dass der Sohn Niels 1942 in Rußland fiel.

First Lady Bremens

Nach Kriegsende – Wilhelm Kaisen wurde am 6.6.1945 von der Militärregierung zum Mitglied des Senats und Wohlfahrtssenator ernannt, am 1.8.1945 dann zum Bürgermeister und Präsidenten des Senats – engagierte sich die „first lady“ Bremens erneuert für die AWO, übernahm aber – obwohl als Ehefrau des Senatspräsidenten gewiß nicht unbedeutend für die Organisation – keine hervorragenden Ämter. Eine aktive Rolle in der „Wohlfahrtspflege“ übernahm sie erst mit der Gründung des Vereins Nachbarschaftshaus Bremen e.V. Zwischen 1951 und 1964 war sie die Vereinsvorsitzende.

Helene Kaisen verstarb am 6.9.1973 im Borgfelder Familiensitz.


Quelle: Von Friedrich Ebert bis Ella Ehlers
Zur Vorgeschichte und zur Geschichte der bremischen Arbeiterwohlfahrt
von Jürgen Blandow, Edition Temmen, Bremen 1995 1